"Die Sanktionen sind von beispielloser Massivität"

Zahlreiche Staaten haben als Folge der russischen Invasion in die Ukraine massive Sanktionen gegen Russland verhängt. Über historische Analogien und die Wirksamkeit der oft als historisch bezeichneten Strafmaßnahmen sprach Norbert Robers mit dem Wirtschaftshistoriker Dr. Ulrich Pfister, Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neueren und Neuesten Zeit an der WWU. Das Interview ist in der Universitätszeitung wissen|leben erschienen.
Derzeit wird der Begriff ‚historisch‘ mit Blick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine oft verwendet – auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland. Ist der Begriff ‚historisch‘ in diesem Zusammenhang gerechtfertigt?
Die aktuellen Sanktionen sind in ihrem Umfang und ihrer Wirkung neu und, so gesehen, auch historisch. Möglich wird dies nur durch die globalisierte Welt. Das aktuelle Ausmaß der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen ist beispiellos, sodass man auch kein historisches ,Vorbild‘ benennen kann. Es gibt allenfalls historische Parallelen: Das sind die beiden Weltkriege, in denen man versucht hat, die Nachschublinien des Feindes zu unterbinden ...
Die modernen Sanktionen sind also das, was man früher das Trockenlegen der Nachschublinien nannte?
Ja, das kann man so sehen. Was die zweite Phase der modernen Globalisierung, die etwa 1980 beginnt, von der ersten Phase der Globalisierung bis etwa 1910 aber vor allem unterscheidet, ist das weltweit intensive finanzielle Zusammenspiel. Und deswegen hat man sich jetzt auch vorrangig für Finanzsanktionen entschieden, weil sie schnell und stark wirken. Zuvor ging es um Restriktionen des physischen Handels, das gilt beispielsweise auch noch für die Sanktionen gegenüber dem Iran – heute geht es in erster Linie um das Lahmlegen von Geldtransfers. Darüber will man Russland vom Technologienachschub und insgesamt aus der Wertschöpfungskette ausschließen.
Kann man in unserer globalisierten Welt, in der alle Staaten voneinander abhängig sind und miteinander Handel treiben, mit derart massiven Wirtschaftssanktionen Diktatoren und Kriegstreiber beeinflussen?
Auf jeden Fall, zumindest langfristig. Wobei man noch nicht weiß, ob Präsident Wladimir Putin all dies in seinen brutalen Großmachtvisionen als Kollateralschäden einkalkuliert hat. Fest steht jedenfalls, dass die Weltgemeinschaft Russland vom internationalen Handel und vom technologischen Fortschritt abhängt, was für Russland auf Jahre, wenn nicht sogar auf Jahrzehnte erhebliche negative Folgen haben wird ...
... und dabei vor allem für die sogenannten einfachen Leute?
Ja, das ist leider so. Deswegen halte ich es für durchaus plausibel, dass man mit den Strafen für die Superreichen, deren Konten im Westen eingefroren sind, für eine Art ausgleichende Gerechtigkeit sorgen will. Allerdings gilt es auch zu beachten, dass die Auslandsanlagen der Oligarchen einen beträchtlichen Teil des russischen Volksvermögens umfassen, möglicherweise gegen die Hälfte.
Ab wann sind die Sanktionen wirksam?
Wegen der beispiellosen Massivität waren die Sanktionen gegen Russland vom ersten Tag an spürbar. Die Maßnahmen haben vom ersten Tag an gewirkt, viele Menschen haben beispielsweise an den Bankautomaten nicht mehr die Menge an Geld bekommen, die sie wollten. Ein Beispiel für die langfristigen Effekte: Wir werden es wahrscheinlich erleben, dass in Russland in etwa drei Jahren vorwiegend altersschwache Autos fahren, weil man dort auf Jahre von der Lieferung von Ersatzteilen abgehängt sein wird. Dass russische Flugzeuge nicht mehr sachgemäß gewartet werden können, wird den Flugverkehr sowohl mit dem Ausland als auch im Inland rasch negativ beeinflussen.
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass man die in westlichen Ländern befindlichen enormen Devisenreserven Russlands blockiert?
Das erinnert mich an das Jahr 1931, als Deutschland in die Zahlungsunfähigkeit abglitt. Russland ist auf dem Weg in eine Devisenbewirtschaftung, bei der Bürger und Unternehmen nicht mehr frei ausländische Währung – also Euro und Dollar – kaufen können, sondern Devisen nach Abwägung des Bedarfs durch Verwaltungsakte zugeteilt werden. Umgekehrt müssen bereits jetzt Exportunternehmen ihre Erlöse in ausländischer Währung zum größten Teil in Rubel umtauschen.
Keine Geschäfte mehr mit der russischen Notenbank, Vermögenswerte von Banken, der Ausschluss vom internationalen Zahlungssystem ‚SWIFT‘: Wie lange kann Russland dies durchhalten?
Das ist schwer zu prognostizieren, aber es kann lange dauern. Dennoch steht außer Frage, dass dieser Prozess künftiges Wachstum erschwert. Die OECD schätzt, dass im Fall, dass die Sanktionen ein Jahr andauern, die Wirtschaftsleistung Russlands um etwa zehn Prozent zurückgehen wird.
Es gibt auch eine Reihe ‚persönlicher Sanktionen‘ gegen Präsident Putin, gegen Außenminister Lawrow und gegen zahlreiche Großindustrielle, die Oligarchen: Sind das ebenfalls wirksame Strafen oder sind sie vor allem symbolischer Natur?
Diese Maßnahmen haben nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen politischen Hintergrund. Man will auf diese Weise einen Regierungsumsturz initiieren, es geht um die Destabilisierung der Elite.
Wie schätzen Sie die Rolle Chinas ein – kann sich Russland mit der Hilfe Chinas ‚retten‘?
Auch das lässt sich nur schwer einschätzen. Die chinesische Wirtschaft ist allerdings ebenfalls stark verflochten, sodass zum Beispiel in Singapur registrierte chinesische Staatsbanken ihre Geschäfte mit Russland eingestellt haben.
Links zu dieser Meldung:
Originalmeldung auf der WWU-Website
Beitrag in der Uni-Zeitung wissen|leben
Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neueren und Neuesten Zeit