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Dekanat

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät begrüßt Clemens Fuest zum Auftakt der Ringvorlesung des Wintersemesters

„Deutsche, Franzosen, Italiener – oder Europäer? Zur Bildung einer europäischen Identität“

Ein bis auf den letzten Platz besetzter Hörsaal und ein Referent, der dank seiner Expertise in ganz Deutschland – und darüber hinaus – einen hervorragenden Ruf genießt: Der Auftakt der Ringvorlesung des Wintersemesters sorgte am Donnerstagabend für Begeisterung bei den zahlreich erschienenen Besuchern. Nachdem die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät im Sommersemester 2018 erstmalig eine Veranstaltungsreihe angeboten hatte, die neben den regulären Vorlesungsveranstaltungen ein Schlaglicht auf das aktuelle Wirtschaftsgeschehen richtete, konnten auch für das Wintersemester vier namhafte Referentinnen und Referenten gewonnen werden. Setzte sich die Ringvorlesung des Sommersemesters noch mit erfolgreichen Unternehmensgründungen auseinander, so wird der Fokus im Wintersemester deutlich weiter gefasst. „Europas Zukunft“ – so lautet der Titel der Vortragsreihe, die an vier Donnerstagen im Januar stattfinden wird.

Den Auftakt hierzu gab am Donnerstagabend Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Fuest von der LMU München. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist Clemens Fuest Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium der Finanzen und Präsident des ifo Instituts München. Der gebürtige Münsteraner hatte für seinen Vortrag ein ebenso abstraktes wie kontroverses Thema gewählt: „Deutsche, Franzosen, Italiener – oder Europäer? Zur Bildung einer europäischen Identität“, so lautete der Titel der Auftaktveranstaltung.

Nach der Begrüßung durch die Organisatoren der Veranstaltungsreihe, Prof. Theresia Theurl, Dekanin des Fachbereichs, und Prof. Dr. Johannes Becker, Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft I, wandte sich Prof. Fuest gleich zu Beginn seines Vortrages an das Publikum: „Sehen Sie sich selbst als Deutsche oder als Europäer?“. Die Handzeichen der Besucher ließen darauf schließen, dass sich die Mehrzahl der erschienenen Besucher nicht nur als Angehörige der eigenen Nation, sondern auch vielfach als Europäer sahen. Ein Ergebnis, auf das Clemens Fuest im Verlauf seines Vortrages noch zurückkommen sollte…

Um ein gemeinsames Verständnis für die aktuelle Situation in Europa zu schaffen, gab Clemens Fuest zu Beginn seines Vortrages einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas in den vergangenen 18 Jahren. Auffällig sei dabei vor allem die Divergenz innerhalb der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie werde insbesondere zwischen Ländern wie Deutschland oder Finnland, in denen die Auswirkungen der Finanzkrise mittlerweile überwunden seien, und krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland und Italien deutlich. Sie stehe der angestrebten wirtschaftlichen Konvergenz innerhalb der europäischen Union entgegen und führe somit zu Spannungen in Europa. In der europäischen Geschichte gehe zudem mit dem geplanten Austritt Großbritanniens eine Epoche zunehmender Integration zu Ende: „Die europäische Union wird nicht mehr die Gleiche sein, nach diesem Austritt“, so Fuest. Gleichzeitig sei es für die europäischen Staaten von entscheidender Bedeutung, ihre wirtschaftlichen Interessen angesichts der wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China gemeinsam zu verteidigen.

In Anbetracht der aktuellen Spannungen innerhalb der Europäischen Union, müsse die Frage gestellt werden, ob es unter den europäischen Ländern überhaupt so etwas wie eine europäische Identität gebe und was darunter zu verstehen sei. „Identität lässt sich als die Antwort auf die Frage verstehen, wer man selbst ist“, so Fuest. Von zentraler Bedeutung sei in diesem Zusammenhang die Konstanz dieser Selbst-Wahrnehmung. Man dürfe diese jedoch nicht mit einer Unterstützung der EU-Politik gleichsetzen: „Sich als Europäer zu fühlen ist eines, die Politik der EU zu unterstützen etwas anderes“. Diese Unterscheidung decke sich mit den Ergebnissen einer Studie des European Network for Economic and Fiscal Policy Research, die Fuest gemeinsam mit seinen Co-Autoren Sarah Ciaglia und Friedrich Heinemann bereits im Oktober 2018 veröffentlicht hatte. So sei die Studie zu dem Ergebnis gelangt, dass das nationale Identitätsgefühl bei einem Großteil der Befragten – anders als bei den anwesenden Gästen – deutlich stärker ausgeprägt sei als das europäische Identitätsgefühl. Das Gefühl einer europäischen Identität habe jedoch in den vergangenen zehn Jahren trotz aller Probleme innerhalb der EU zugenommen – überraschenderweise am stärksten in Ungarn und Großbritannien. Abgenommen habe das Identitätsgefühl insbesondere in den Krisen-Staaten Griechenland und Italien. Die EU-Mitgliedschaft werde zudem von knapp 60% der Befragten positiv wahrgenommen, während nur rund 15% der Befragten die Mitgliedschaft negativ wahrnehmen. Die Zustimmung sei allerdings im Zuge der Wirtschaftskrise deutlich zurückgegangen und habe praktisch in allen Ländern nachgelassen. Unter den befragten Gruppen zeichne sich vor allem die Gruppe der Studierenden durch ein starkes europäisches Identitätsgefühl aus. Zwischen dem Bildungsniveau sowie zwischen der eigenen wirtschaftlichen Lage und dem europäischen Identitätsgefühl gebe es ebenfalls positive Korrelationen. Demgegenüber stütze die Studie die Annahme, dass das europäische Identitätsgefühl bei älteren Menschen weniger stark ausgeprägt sei.

Abschließend fasste Fuest einige Vorschläge zur Stärkung der europäischen Identität zusammen, die im Rahmen der Studie abgeleitet werden konnten. So liege eine Chance zur Steigerung der europäischen Identität darin, den persönlichen Kontakt mit anderen Europäern zu stärken. Im Hinblick auf die Gruppen, in denen ein europäisches Identitätsgefühl bislang nur wenig verbreitet scheint, könne etwa ein Erasmus-Programm für Senioren oder ein Austauschprogramm für Beschäftigte während oder nach ihrer Ausbildung dazu führen, die europäische Identität zu stärken.

Eine Gefahr sehe Fuest derzeit in einem „schlafwandlerischen Zerfall“ der EU. Eine europäische Identität sei demnach wichtig, um das Interesse der Menschen für Europa zu erhalten. Dabei sei es nicht erforderlich, die aktuelle EU-Politik gutzuheißen oder zu unterstützen, viel wichtiger sei es, Europa aktiv zu gestalten: „Nachdenken über europäische Identität heißt: informiert zu sein, sich mit Europa zu beschäftigen und Entwicklungen mitzugestalten.“

Für Studierende der WWU ist die Aufzeichnung des Vortrags von Clemens Fuest ab sofort über das Learnweb abrufbar: http://go.wwu.de/7e9g9