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Dekanat

„WIR FB4“ - vier Fragen an Prof. Dr. Theresia Theurl

Prof. Dr. Theresia Theurl ist Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen und seit 2014 Dekanin der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Zuvor hatte Sie das Amt bereits von 2005 bis 2006 inne. Im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit widmet sich Frau Prof. Theurl der Ökonomik der Unternehmenskooperation sowie genossenschaftlicher Kooperationen, der Institutionenökonomik sowie der ökonomischen Analyse der Regulierung. Anlässlich des 200. Geburtstages Friedrich Wilhelm Raiffeisens, dem Begründer der genossenschaftlichen Bewegung auf deutschem Boden, haben wir Frau Prof. Theurl vier Fragen gestellt:

1. Sehr geehrte Frau Prof. Theurl, das Genossenschaftswesen bildet das Zentrum Ihrer Forschungstätigkeit, doch was versteht man eigentlich unter Genossenschaften und wie unterscheiden sie sich von anderen Unternehmensformen?

Genossenschaften sind eine Form der Kooperation von Unternehmen oder von Menschen. Zielsetzung ist die Schaffung einer Kooperationsrente, also Ergebnisse, die allein bleibend nicht erzielt werden könnten. Kooperationspartner, die bei Genossenschaften als Mitglieder bezeichnet werden, mit ähnlichen Voraussetzungen oder mit ähnlichen Defiziten, gründen zusammen ein Unternehmen, also ein Joint Venture. Dieses Unternehmen nennt sich Genossenschaft. Es organisiert die Leistungen für die Mitglieder. Diese sind zusammen seine Eigentümer. Das genossenschaftliche Unternehmen ist also wesentlicher Teil eines dezentral organisierten Netzwerkes der Partner. Die Governance von genossenschaftlichen Kooperationen leitet sich aus diesem Zusammenwirken einer dezentralen (Mitglieder) und einer zentralen Ebene (genossenschaftliches Unternehmen) ab. Die Besonderheit ergibt sich daraus, dass die Mitglieder gleichzeitig Eigentümer sind, also die strategischen Entscheidungen treffen, und zusätzlich die Leistungen der Genossenschaft nachfragen. Gute Entscheidungen werden auf der Leistungsebene belohnt, schlechte bestraft. Daraus entsteht eine starke Anreizkonsistenz. Genossenschaften haben ausschließlich für ihre Mitglieder Werte zu schaffen, einen MemberValue. Dieser fließt ihnen über die konkreten Leistungen direkt, über eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals sowie über Entscheidungs- und Kontrollrechte indirekt zu. Genossenschaften sind beschränkt, was die Entstehung, die Verwendung und die Verteilung der Gewinne betrifft. Ein großer Teil des gemeinsam Erwirtschafteten muss in der Genossenschaft verbleiben, um die Unternehmensentwicklung langfristig zu finanzieren und sicherzustellen. Diese spezielle und im Genossenschaftsgesetz geregelte Governance bestimmt die Unterschiede zu anderen Kooperationsformen sowie zu anderen Unternehmensformen.    

2. Sie selbst haben Ihre wissenschaftliche Laufbahn neben anderen Forschungsfeldern der Untersuchung genossenschaftlicher Kooperationen gewidmet. Was fasziniert Sie so sehr an der Genossenschaftsidee?

Es handelt sich um ein sehr ergiebiges Forschungsfeld, wenn Genossenschaften auf dem aktuellen Wissensstand der Institutionen- und der Organisationsökonomik analysiert werden. Sie weisen besondere Anreiz- und Informationsprobleme auf, ebenso aber auch spezielle Mechanismen, um mit diesen fertigzuwerden. Höchst interessant ist wie sie seinerzeit, also in den Tagen von Raiffeisen und anderen Pionieren, entstanden sind, nämlich direkt aus der Not heraus, als kollektive Selbsthilfe von Menschen sowie Unternehmen, die schlechte wirtschaftliche Perspektiven und kaum gesellschaftliche Teilhabe hatten. Mit der Gründung von Genossenschaften konnten regionale Wirtschaftskreisläufe in Gang gesetzt und damit Wirtschafts- und Lebensräume aufgewertet und stabilisiert werden.

Einzelwirtschaftliche Entscheidungen können weit über die Genossenschaft hinausgehende gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Effekte hervorrufen. Erfolgreiche Genossenschaften tragen zur Wertschöpfung und zum Steueraufkommen bei, sie schaffen Arbeits- und Ausbildungsplätze und verbessern daher die gesellschaftliche Teilhabe. Dies ist auch der Hintergrund, dass Genossenschaften ein besonderes Wertegerüst zugeschrieben wird: Langfristig und nachhaltig orientiertes Wirtschaften, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, lokale realwirtschaftliche Verankerung. Faszinierend ist, dass nicht, wie häufig üblich, nach staatlichen Lösungen und anderen Unterstützungen gesucht wird, sondern dass die Zukunft eigenständig in die Hand genommen wird. Auf diese Weise entstehen zusätzliche Unternehmen. Die Leistungsfähigkeit von Genossenschaften sollten allerdings realistisch eingeschätzt werden. Es handelt sich um eine Form von Kooperationen, die für die Erreichung bestimmter Ziele geeignet sind, jedoch nicht für alle. Wenn im Vordergrund eine möglichst hohe kurzfristige Rendite ohne Interesse an den Leistungen der Genossenschaft steht, sind Genossenschaften ungeeignet. Herauszuarbeiten, unter welchen Voraussetzungen, es sich um die beste Option handelt, ist nach wie vor ein faszinierendes Unterfangen. 

3. Die ersten Genossenschaften wurde vor über 150 Jahren, unter anderen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen gegründet. Welche Rolle spielen Genossenschaften heute noch?

Damals handelte es sich aus den genannten Gründen um eine institutionelle Innovation, die eine große Ausstrahlung hatte. Heute sind weltweit über 800 Millionen Menschen Mitglieder in einer Genossenschaft. Genossenschaften sind in über 100 Ländern der Welt vertreten. Insgesamt hat der Anteil der genossenschaftlichen Ökonomie an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung im Laufe der Jahrzehnte selbstverständlich abgenommen. Doch immer noch sind in manchen Wirtschaftsbereichen 75% und mehr der Unternehmen Genossenschaften. Zu denken ist an das Handwerk oder an Freiberufler, z.B. die Steuerberater. Besonders interessant ist, dass seit einigen Jahren wieder deutlich mehr neue Genossenschaften gegründet werden als dies im vorangegangenen Zeitraum der Fall war.

Genossenschaften werden heute in wirtschaftlich expandierenden und innovativen sowie in gesellschaftlich wichtigen Bereichen gegründet. Es zeigt sich, dass Menschen in wichtigen Lebensbereichen mehr Einfluss auf Entscheidungen wünschen und dass sie Abhängigkeit von dominanten Unternehmen ablehnen. Beispiele dafür sind Energiegenossenschaften sowie Wohnungsgenossenschaften. Genossenschaften sind immer mehr auch ein Vehikel für die Gründung einer selbständigen Existenz, z.B. für Freiberufler und Künstler. Genossenschaften ermöglichen es, Größenvorteile zu nutzen, so für das Handwerk und für Internetunternehmen. Kürzlich wurden in Nordrhein Westfalen zwei Genossenschaften für den beschleunigten Ausbau der Breitbandinfrastruktur gegründet, eine von Kommunen und eine von Unternehmen und Bürgern.

Nicht überraschend wird zunehmend die Gründung genossenschaftlicher Plattformen diskutiert. Sie ermöglicht es, dass die Gewinner den Nutzer zukommen und nicht den Investoren. Dieser Aspekt hat in der Sharing Economy große Bedeutung erlangt. Genossenschaften werden aber aufgrund ihrer speziellen Governance auch als ein Vertrauensanker interpretiert, so z.B. in genossenschaftlich organisierten Daten-Clouds. Mittelständische Unternehmen gründen solche, um selbst zu entscheiden, was mit ihren Daten geschieht. Viele weitere Beispiele könnten genannt werden, die die aktuelle Bedeutung von Genossenschaften demonstriert. Dabei sollte aber nicht vernachlässigt werden, dass Genossenschaften heute nicht mehr in Wirtschaftsbereichen gegründet werden, die seinerzeit im Vordergrund standen. Dies gilt vor allem für die Bankgenossenschaften.    

4. Wie erklären Sie sich, dass die Grundidee, die hinter dem Genossenschaftswesen steht, bis heute große Bedeutung für das wirtschaftliche Leben behalten hat?

Die Gründe erschließen sich aus den bereits genannten Informationen: Genossenschaften sind die Pioniere eines heute breit diversifizierten Kooperationsgeschehens. Sie ermöglichen es, lokale Verankerung und geringe Unternehmensgrößen mit der Nutzung von Größen- und Kompetenzvorteilen zu kombinieren, ohne dass Investoreninteressen in den Vordergrund treten. Der MemberValue wird als ein sympathischer ShareholderValue interpretiert, was besonders seit der globalen Finanzmarktkrise 2007ff Bedeutung gewonnen hat. Es sind also wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ursachen, die genannt werden können. Besonders hervorzuheben ist, dass vor allem junge Menschen eine Affinität zu Genossenschaften haben. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie dem Zusammenwirken in Communities zugeneigt sind. Die Art des Zusammenwirkens kann vom einfachen Informationsaustausch, der kontinuierlichen Kommunikation, der Diskussion und Vorbereitung als wichtig eingeschätzter Projekte, deren konkrete Organisation sowie bis zu deren Finanzierung gehen. Unterschiedliche oder ähnliche Stärken, Möglichkeiten sowie Ideen sollen genutzt und kombiniert werden. Die Mechanismen, über die die Kooperationsrente entsteht, sind jene der Schwarmintelligenz. Zusammen sollen Projekte gestemmt werden, häufig solche, die als gesellschaftlich wertvoll eingeschätzt werden. Die Korrespondenz mit dem genossenschaftlichen Geschäftsmodell ist unübersehbar. Economies of scale, of scope, of skills können durch die Zusammenarbeit genutzt werden. Besonders deutlich wird dies beim Crowd-Financing.

Es hat sich auch herausgestellt, dass junge Menschen bereit sind, Verantwortung für Angelegenheiten zu übernehmen, die ihnen wichtig sind, z.B. im Bereich der Ökologie, der Energieversorgung oder einer gerechten Gesellschaft. Für diese Themen fordern sie mehr Transparenz als dies heute meist üblich ist sowie Möglichkeiten zur Mitwirkung und zur Kontrolle. Teilhabe und deren Ausweitung auf größere Gesellschaftsgruppen ist ihnen wichtig. Neuerlich zeigt sich eine Verbindung zu den Mitwirkungs- und Kontrollrechten von Genossenschaften sowie zu zusätzlichen Möglichkeiten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe, die durch Genossenschaften möglich werden. Während mit den privaten und beruflichen Aktivitäten junger Menschen heute vor allem ihre Internationalität und die Nutzung digitaler Kanäle assoziiert wird, sollte dabei nicht übersehen werden, dass ein Ausgangspunkt oder ein Fluchtpunkt für sie immer wichtiger wird. Dies kann sowohl aus dem Verhalten als auch aus Befragungen abgeleitet werden. Nähe, als Lokalität oder Regionalität verstanden, wird wichtiger. Das Engagement junger Menschen für regionale Projekte – oft digital umgesetzt – hat deutlich zugenommen. Dass das durch genossenschaftliche Aktivitäten in der Region Erwirtschaftete nicht abgezogen wird, sondern in der Region bleibt, ist eine Besonderheit der genossenschaftlichen Kooperation. Der den Mitgliedern zugutekommende MemberValue ist gleichzeitig eine Form der Regionalförderung. Genossenschaften setzen ein sehr zeitgemäßes Geschäftsmodell um. Gäbe es sie nicht schon, würden sie wohl heute erfunden werden.