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Prof. Apolte über die Proteste in Belarus und das „Dilemma der Revolution“

Prof. Dr. Thomas Apolte ist Inhaber des Lehrstuhls für Ökonomische Politikanalyse am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung. In seinem aktuellen Buch „Der Mythos der Revolution“ setzt sich Prof. Apolte kritisch mit modernen Theorien der Revolution auseinander. Im Zentrum des Buches stehen spieltheoretische Gedankenexperimente, die dem Nachvollzug individueller Entscheidungskalküle in verschiedenen Konstellationen dienen.

In Belarus finden seit den Präsidentschaftswahlen Anfang August heftige Proteste innerhalb der Bevölkerung statt, die sich gegen die Ausrufung von Staatspräsident Alexander Lukaschenko als erneutem Sieger der Wahl richten. Die Demonstranten werfen Lukaschenko Wahlbetrug vor und fordern seinen Rücktritt. Wir haben mit Prof. Apolte über die Proteste gesprochen und ihm in diesem Zusammenhang vier Fragen gestellt:

Herr Prof. Apolte, Sie setzen sich in Ihrem aktuellen Buch mit Machtsystemen und Revolutionen auseinander. Inwieweit kann die aktuelle Situation in Belarus mit früheren Revolutionen verglichen werden, wie bspw. mit den in Ihrem Buch beschriebenen Umsturzbewegungen in Mittel- und Osteuropa 1989? 

Man kann sie durch die große Zahl an Menschen vergleichen, die hier wie dort ein Regime unter Druck setzt. Solche Massenbewegungen sind in historischen Revolutionen bis 1989 eher selten gewesen, und das gilt auch für die Oktoberrevolution 1917 in Russland, die lediglich propagandistisch als Massenbewegung dargestellt wurde. Es gibt aber auch einen wichtigen und wahrscheinlich entscheidenden Unterschied. Die Massenbewegungen von 1989 trafen auf Regime, deren innerer Machtkern längst marode war und denen zum Schluss auch der Rückhalt durch die sowjetische Führungsmacht fehlte. Das ist in Belarus anders: Es gibt bisher keinerlei Anzeichen für bröckelnde Loyalität der Sicherheitskräfte zu Lukaschenko, und der Rückhalt durch Putin verstärkt diese Loyalität selbst ohne aktives russisches Eingreifen.

Sie thematisieren in Ihrem Buch unter anderem das „Dilemma der Revolution“. Was hat es damit auf sich?

Das Dilemma der Revolution ist nicht weniger als die Quelle der Macht eines Diktators. Wenig einflussreiche Mitglieder der großen Masse riskieren mit der Beteiligung an Massenprotesten viel, erreichen aber jeder für sich nur sehr wenig. Wäre das anders, würden wir in den vielen Diktaturen der Welt (immerhin mehr als die Hälfte aller weltweiten Regierungen) sehr viel mehr Massenproteste sehen. Durch das Dilemma der Revolution sind sie selbst in sehr korrupten und ausbeuterischen Diktaturen eher die Ausnahme.

Ein Bürger, der die politischen Verhältnisse ändern möchte, weiß zwar, dass es für ihn allein nahezu unmöglich ist, an den Verhältnissen etwas zu ändern, dennoch gehen Menschen wie aktuell in Belarus auf die Straße und demonstrieren gegen die Regierung. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?

Wenn das Dilemma der Revolution die Wirklichkeit vollständig beschreiben würde, dann dürfte es Massenproteste wie jene in Belarus gar nicht geben. Aber auch, wenn sie relativ selten sind, so kommen sie doch auch in Diktaturen absolut gesehen fast regelmäßig vor, zuletzt neben Belarus auch im Osten Russlands und in Venezuela. Oft entstehen sie nach einer offensichtlich gefälschten Wahl, nach öffentlich gewordenen Korruptionsfällen, nach schlecht gemanagten Katastrophen oder ähnlichen genau spezifizierbaren Ereignissen, die wie Startsignale wirken. Der Hintergrund ist, dass sich ein einzelner Protestierender durch eine große Masse weiterer Protestierender einigermaßen geschützt fühlen kann, was natürlich nur funktioniert, sofern diese Masse einmal da ist. Ist sie aber nicht da, bleibt er schutzlos und wird im Zweifel sofort verhaftet. Die Masse bietet daher jenen Schutz, aus dem heraus sie selbst erst entstehen kann. Daraus erwächst eine Art Henne-Ei-Problem, und das ist das wichtigste Hindernis zur Entstehung von Massenprotesten. Das Henne-Ei-Problem ist ein Segen für Diktatoren, aber ein Fluch für die unterdrückte Bevölkerung.

Gefälschte Wahlen oder ähnliche, genau spezifizierbare Ereignisse sind manchmal das Startsignal, das große Zahlen von unzufriedenen Menschen gleichzeitig auf die Straße treibt und dabei wie aus dem nichts einen Schutzschirm aufspannt, hinter dem sich jeder einzelne Protestierende einigermaßen geschützt fühlen kann. Das funktioniert manchmal, wie gerade in Belarus, aber meistens eben nicht. Dutzende Male hatte das DDR-Regime über Jahrzehnte regelmäßig Wahlen gefälscht, und jeder wusste das. Aber im Mai 1989 war es ein Startsignal und hat mit einem Schlag die Menschen auf die Straße getrieben.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Erfolg einer Revolution sich aus der großen Masse der Protestierenden speist, die sich gemeinsam gegen die Regierung stellen. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Gründung der neuen Partei Wmestje (zu Deutsch: Gemeinsam) der Oppositionellen in Belarus?

Dazu müssen wir etwas ausholen. Die Massen werden ein Regime nur zu Fall bringen, sofern die Sicherheitskräfte vor dem Hintergrund der Proteste dem Regime die Loyalität kündigen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Loyalitätswechsel im Falle von Massenprotesten steigt. Das allein macht Massenproteste für Diktatoren gefährlich. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass die Loyalität der Sicherheitskräfte so weit geht, dass sie im Zweifel scharf auf wehrlose Protestierende schießen. In Peking war das 1989 der Fall, kurz danach schreckten die Sicherheitskräfte in Leipzig aber davor zurück, und damit war das Regime am Ende. Wie sieht es in Belarus aus? Die Zusage Putins, das Regime zu schützen, ist eigentlich eine Drohung an die belarussischen Sicherheitskräfte. Sie lautet: Wir werden keinen Regimewechsel in Belarus zulassen (wenn auch vielleicht den Kopf Lukaschenko austauschen). Vor diesem Hintergrund ist ein Loyalitätswechsel für die Karriere und vielleicht sogar das Leben eines jeden Kommandeurs gefährlich. Jeder Kommandeur weiß, dass jeder seiner Kollegen genauso denkt und danach handeln wird. Also werden sie vermutlich allein aufgrund der Ankündigung Putins loyal bleiben.

Zurück zur Frage: In der Euphorie der Proteste bildet die Opposition zwar Strukturen, wie die neue Partei Wmestje. Aber das wird nichts helfen, wenn die Sicherheitskräfte loyal zum Regime bleiben. Denn der Partei stehen keine Machtmittel zur Verfügung. Das ist leider keine gute Prognose für die neue Partei.