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Dekanat

Prof. Dr. Hans-Werner Sinn über die Folgen des „Brexits“

Langjähriger Präsident des ifo Instituts kehrt anlässlich des Fakultätsjubiläums an seine Alma Mater zurück

Am 17. Mai 2019 durfte die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ihr 50-jähriges Bestehen feiern. Unter den Studierenden, die im Laufe der vergangenen 50 Jahre ihr Studium am „FB4“ abschließen konnten, finden sich viele bekannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Eine der wohl bekanntesten unter ihnen ist Prof. Dr. Hans-Werner Sinn. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2016 war Hans-Werner Sinn Präsident des ifo Instituts, Direktor des Center for Economic Studies (CES) und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (LMU). Seine wissenschaftliche Karriere begann Hans-Werner Sinn mit einem Studium der Volkswirtschaftslehre an der altehrwürdigen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der WWU Münster. Er kam 1967 an die Fakultät – zwei Jahre bevor die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät entstand. Nach Abschluss seines Studiums war er zwei weitere Jahre lang Assistent am Institut für Finanzwissenschaft. Im Zuge der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum kehrte Hans-Werner Sinn nun an seine Alma Mater zurück.

 „Von Beginn der Vorbereitungen an war klar, dass kein anderer Festredner für unser Jubiläum in Frage käme als Hans-Werner Sinn.“ Mit diesen Worten begrüßte die Dekanin der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Theresia Theurl, den Ehrengast der Festveranstaltung, zu der rund 1.000 Gäste erschienen waren. Das Thema des Festvortrages hatte Hans-Werner Sinn selbst gewählt. Mit dem „Brexit“ – dem drohenden Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union – griff er ein Thema auf, das in der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion nahezu omnipräsent erscheint (zur Video-Aufzeichnung des Festvortrages).

Die langjährigen Verhandlungen über den Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) seien ihm noch in guter Erinnerung, erklärte Hans-Werner Sinn zu Beginn des Festvortrages. Insbesondere die ablehnende Haltung der französischen Regierung habe den Beitritt erschwert, wodurch das Vereinigte Königreich erst im dritten Anlauf, im Jahre 1973, in die EG aufgenommen werden konnte. Die vergangenen 46 Jahre habe Deutschland sehr von der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs profitiert: „Unter dem Schutz dieser liberalen und weltoffenen Briten hat sich die deutsche Wirtschaft mit ihrem Export weltweit etablieren können“, so Sinn.

Das Ergebnis des Austritts-Referendums 2016 sei aus seiner Sicht kein Zufall gewesen, wenngleich die Abstimmung denkbar knapp ausgefallen sei. Sinn verwies darauf, dass sich rund 17 Millionen Menschen im Zuge des Votums für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ausgesprochen hatten. Eine absolute Stimmenzahl, die in jüngerer Vergangenheit im Kontext britischer Wahlentscheidungen beispiellos sei. Die Austrittserklärung komme einer Katastrophe für die europäische Entwicklung gleich, schließlich handele es sich bei dem Vereinigten Königreich um die zweitgrößte Volkswirtschaft und somit eines der bedeutsamsten Mitglieder der Union.

Das im Herbst vorgestellte provisorische Vertragspaket, das automatisch eintrete, sollten sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht bis spätestens 2022 auf ein Austrittsabkommen mit dem Vereinigten Königreich verständigen können, sehe einen Verbleib Großbritanniens in der Zollunion vor, während Nordirland demnach auch weiterhin alle vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) genieße. Mithin beschädige das Abkommen die staatliche Integrität des Vereinigten Königreichs. Eine Lösung, die eine Schließung der Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland vorsehe, sei durch ein drohendes Erstarken der Irisch-Republikanischen Armee ebenfalls wenig praktikabel. Folglich könne eine Lösung nur im Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union liegen.

Der Kritik der Briten an der Migrationsfreiheit stehe die Auffassung der EU von der Untrennbarkeit der vier Grundfreiheiten gegenüber. Diese Untrennbarkeit sei zumindest aus ökonomischer Sicht nicht nachvollziehbar. Im Gegensatz dazu werde in den Hörsälen die Substituierbarkeit zwischen der Faktormigration und dem Güterhandel gelehrt. Ein gemeinsamer Arbeitsmarkt führe zu gleichen Lohnstrukturen und zu ähnlichen Güterpreisrelationen, wodurch letztlich die Notwendigkeit für Güterhandel abnehme. Demnach sei der Schaden, der durch Handelsbeschränkungen entstehe, angesichts ausbleibender Migration wesentlich höher.

Die Haltung der EU-Staaten, ein Austritt müsse mit einer „Bestrafung“ einhergehen, sei für Sinn ebenfalls wenig nachvollziehbar. So sei es doch das Ziel der Gemeinschaft, einen Verbleib aufgrund gemeinsamer Vorteile so attraktiv wie möglich zu gestalten. Nur in einer Gemeinschaft, in der es aus wirtschaftlicher Sicht Gewinner und Verlierer gebe, existiere für die Verlierer ein Anreiz, die Gemeinschaft zu verlassen. Einen „Versicherungsvertrag“, der im Sinne eines Umverteilungsvertrages eine gegenseitige Risikoübernahme vorsehe, gebe es in der EU nicht.

Ein „harter Brexit“ habe zur Folge, dass die Zollunion zwischen der EU und Großbritannien aufgelöst werde, was angesichts der Verwobenheit der Wirtschaftssysteme zu Kaskadeneffekten und letztlich zu einer hohen Belastung für den Handel führen werde. Schon jetzt sei eine Kapitalflucht zu beobachten, die sich in der Abwertung des Britischen Pfunds widerspiegele. Gleichwohl bringe der Austritt für Großbritannien auch Vorteile mit sich. So habe der britische Export von Finanzprodukten zu wachsendem Wohlstand und zu steigenden Preisen mit negativen Folgen für die internationale Wettbewerbsposition geführt. In Folge dessen sei es in der Industrie zu einem Abbau von Arbeitsplätzen gekommen. Die Abwertung des britischen Pfunds können nun in Großbritannien zu einem Erstarken des industriellen Sektors führen. Aus ökonomischer Sicht sehe Sinn jedoch durch den „Brexit“ deutlich größere Nachteile für das Vereinigte Königreich.

Die europapolitische Kritik der Briten könne er gleichwohl in vielen Punkte nachvollziehen. So ginge die Regulation der Europäischen Union über die Bestimmungen des Vertrages von Maastricht hinaus. Ein Beispiel bilde die Überspezifikation für den Handel zulässiger Produkten im Agrarbereich, die Merkmale landwirtschaftlicher Erzeugnisse exakt vorgebe, sodass letztlich nur Produkte aus Europa in der EU gehandelt werden dürften. Die Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 habe zudem aus britischer Sicht zu einer nicht gewünschten Inanspruchnahme des Sozialstaates durch osteuropäische Migranten geführt. So sehe die Richtlinie vor, dass EU-Bürger nach fünf Jahren ein dauerhaftes Anwesenheitsrecht ebenso wie steuerfinanzierte Sozialleistungen im EU-Ausland zustünden. Hierzu genüge prinzipiell eine Anschrift innerhalb des jeweiligen Staates, da eine dauerhafte Anwesenheit ohnehin nicht zu überprüfen sei. Hieraus ergebe sich ein ineffizienter „Sozialmagnetismus“. Migration sei nur dann wünschenswert, wenn eine Lohndifferenz zwischen den beiden betroffenen Staaten bestehe. Hingegen führe Migration, die durch höhere Sozialleistungen motiviert werde, zu einem unerwünschten Wettbewerb zwischen den Sozialsystemen einzelner Staaten.

Die Kritik des Vereinigten Königreichs müsse den EU-Mitgliedsstaaten zu denken geben. So sei ein Dialog notwendig, der im Hinblick auf Reformbestrebungen zu führen sei. Die verbleibende Zeit müsse schließlich genutzt werden, um dem Vereinigten Königreich ein Angebot zur Reformierung der Europäischen Union vorzulegen, sodass die britische Bevölkerung sich erhobenen Hauptes für einen Verbleib in einer reformierten Union entscheiden könne. Die Hoffnung, dass ein Verbleib des Vereinigten Königreichs auf diesem Wege zu erreichen sei, werde Sinn bis zur letzten Sekunde bewahren.