Alumni Story: Christian Osterhold
„EZB senkt Zinsen: Kampf gegen Inflation geht weiter“; „Draghi warnt vor ‘existenzieller Herausforderung‘“; „Konjunkturprognose: Wie die deutsche Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen kann“. Wir lesen in den Medien fast täglich über neue politische Ereignisse, Wirtschaftsprognosen und geopolitische Entwicklungen. Nur mit einem Verständnis der ökonomischen und politischen Zusammenhänge können die Folgen solcher Ereignisse richtig eingeschätzt und vorausschauende Entscheidungen getroffen werden. Für solche Einschätzungen stehen Experten wie Christian Osterhold, deren fundierte Erfahrung in Wirtschafts- und Währungspolitik es ermöglicht, komplexe Entwicklungen einzuordnen und Handlungsempfehlungen zu formulieren.
Nach dem Bachelor in Volkswirtschaftslehre an der Universität Münster hat Herr Osterhold den Master an der Nova School of Business and Economics in Lissabon gemacht. Er hat erste praktische Erfahrung in der empirischen Wirtschaftsforschung als Gastforscher im portugiesischen Finanzministerium sammeln können. Nach einer Station in der geldpolitischen Abteilung der Europäischen Zentralbank wechselte Christian Osterhold 2019 in das Bundesministerium der Finanzen nach Berlin. Im Zuge dieser Tätigkeit arbeitete er unter anderem als Finanzattaché in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU in Brüssel. Derzeit ist er im Grundsatzreferat für finanzielle Aspekte der Europapolitik tätig.
Lieber Herr Osterhold, Sie haben in Ihrer beruflichen Laufbahn in verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet. Was hat Sie an der internationalen Erfahrung besonders fasziniert? Gibt es besondere Erlebnisse oder Erkenntnisse, die Ihren beruflichen Weg nachhaltig geprägt haben?
Zweifellos die Menschen, die ich kennengelernt habe. Durch den intensiven Austausch mit Personen aus verschiedenen Ländern und Kulturen habe ich neue Eindrücke gewonnen und meine eigene Meinung häufiger kritisch hinterfragen müssen. Besonders überrascht hat mich, wie gut meine europäischen Gesprächspartner über die deutsche Politik informiert waren. Unsere europäischen Nachbarn beobachten Entscheidungen aus Deutschland sehr aufmerksam. Das hat meinen Eindruck bestärkt, dass wir uns in Deutschland viel zu oft um uns selbst drehen, obwohl wir wirtschaftlich, geografisch und kulturell so eng mit Europa verflochten sind.
Prägend war für mich auch die Gastfreundschaft und die Rücksichtnahme, die ich erfahren habe. Bei einem Forschungsseminar im portugiesischen Finanzministerium war ich die einzige Person, die nicht fließend Portugiesisch sprach. Ich hätte den Vortrag kaum verstanden. Als darauf hingewiesen wurde, wechselte der Vortragende ohne Zögern für mich ins Englische – und mit ihm ein Raum voll Muttersprachler. Dieser Moment hat mich nachhaltig beeindruckt.
Wie dürfen wir uns Ihren Arbeitsalltag als Referent im Bundesministerium der Finanzen vorstellen?
Die Aufgaben im Ministerium sind je nach Abteilung und Team sehr vielfältig. Mein aktuelles Aufgabengebiet ist breit gefächert und wird teils stark vom aktuellen Tagesgeschehen beeinflusst. Daher scanne ich zu Beginn jeden Tages die relevanten Berichte, die wir aus den europäischen Botschaften bzw. der Ständigen Vertretung in Brüssel erhalten sowie Fachnewsletter, um stets über die neuesten Entwicklungen informiert zu sein.
Zu meinen wiederkehrenden Aufgaben gehört die Vorbereitung und Begleitung der Leitungsebene, konkret meines Staatssekretärs und meiner Abteilungsleiterin, zu Sitzungen mit europapolitischen Fragestellungen. Die Agenden umfassen oft komplexe Themen, die auch in der Öffentlichkeit bzw. Presse widerhallen. Diese Breite der Themen braucht Teamwork. Für die Vorbereitung stimme ich mich daher eng mit den jeweiligen Expertinnen und Experten im Ministerium ab. Aus deren Zulieferungen pointiere ich Kerninformationen und arbeite Konfliktlinien heraus, um operative Lösungsfindung zu ermöglichen. Zentral ist dabei vor allem, dass sich die Ressorts der Bundesregierung koordinieren und im besten Fall auf eine gemeinsame Haltung verständigen - nur damit verschaffen wir uns in Brüssel Gehör.
Ich arbeite auch an strategischen Fragen sowie Auswertungen von Ereignissen, damit die Leitung des Ministeriums eine Grundlage für ihre Meinungsbildung hat. Wenn beispielweise die neue europäische Kommission ihre politischen Prioritäten für die kommende Legislaturperiode vorstellt, liegt es bei mir und meinen Kolleginnen und Kollegen diese fachlich zu bewerten, damit die Leitungsebene darauf aufsetzen kann.
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde medial viel über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland diskutiert. Wie verfolgen Sie diese Diskussion?
Ich finde es gut, dass aktiver über das Thema diskutiert und das „läuft doch so“ in Frage gestellt wird. Ich wünschte mir jedoch, dass die Debatte konstruktiver geführt wird, weniger emotional. Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland weiterhin auf einem guten Fundament steht: sehr gute Forschung, sehr gut ausgebildete Fachkräfte, starker Mittelstand und Industrie.
Jedoch steht der Wirtschaftsstandort Deutschland vor großen Herausforderungen, die sich zum Teil schon länger abzeichnen, wenn nicht sogar aufgeschoben wurden, z.B. der demographische Wandel, hohe Abgaben- und Bürokratiebelastungen oder die schleppende Digitalisierung. Die unzureichenden Investitionen in die Infrastruktur wurden bereits in meinem ersten Semester in Münster thematisiert.
Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts hängt meiner Meinung nach davon ab, wie wir künftig priorisieren und investieren und welche Rahmenbedingungen wir schaffen. Unser Wohlstand stützt sich auf eine leistungsfähige Industrie und gut ausgebildete Fachkräfte. Dennoch investieren wir im OECD Vergleich unterdurchschnittlich viel in Bildung. Das passt schwerlich zusammen. Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel sind zunehmende Herausforderungen, dennoch mangelt es an Kitaplätzen, was vielen Eltern den Wiedereinstieg ins Berufsleben erschwert. Auch in puncto Innovationskraft sehe ich großes Potenzial. Zwar gibt es in Deutschland zahlreiche Start-ups, doch viele von ihnen werden bei der relevanten Skalierungsphase von ausländischen Investoren finanziert und verlagern sich ins Ausland. Verglichen mit Deutschland wird das starke Wachstum in den USA von relativ „jungen“ Unternehmen angetrieben (Stichwort: FAANG, KI). Neben der Finanzierung stellt auch die Expansion in der EU Unternehmen vor die Herausforderung, 27 verschiedene Rechtssysteme zu bewältigen. Das zeigt auch, wie eng der Wirtschaftsstandort Deutschland mit Europa verknüpft ist. Diese Baustellen sind bekannt und erste Schritte zur Lösung werden bereits unternommen. Das Potenzial ist vorhanden – jetzt kommt es darauf an, was wir daraus machen.
Im Rahmen Ihrer Arbeit und Forschung helfen Sie auch konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik zu erarbeiten. Was ist es für ein Gefühl, wenn die eigene Arbeit in konkrete Maßnahmen umgesetzt wird?
Der Großteil meiner Arbeit ist das Ergebnis von Teamarbeit. Dabei schätze ich mich glücklich in äußerst fähigen Teams arbeiten zu können. Besonders meine Untersuchungen zu Produktivität und sogenannten Zombie-Firmen in Portugal ist auf sehr großes Interesse gestoßen. Auf unsere Ergebnisse wurden mittlerweile mehrere Arbeiten aufgesetzt – so etwas freut mich natürlich immer.
Um ein konkreteres Beispiel zu liefern: Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den sich daraus ergebenen Energieschock hat die EU u.a. mit einem Maßnahmenpaket namens „REPowerEU“ reagiert. Nach über sechs Monaten intensiver Verhandlungen in Brüssel war es ein Highlight meiner Zeit als Finanzattaché, den Abschluss des Dossiers zu begleiten. Danach habe ich wirklich gemerkt, wie viel Arbeit hinter einer Schlagzeile wie „EU: 20 Milliarden für Energiewende“ steckt.
Disclaimer
Christian Osterhold hat uns dieses Interview als Privatperson und nicht als Angehöriger des Bundesministeriums der Finanzen gegeben. Die im Interview gemachten Aussagen spiegeln daher ausschließlich Herr Osterholds private Meinung wider.