Mehr Marktwirtschaft wagen?

Untertitel: 
Ein Vortrag von Holger Steltzner (ehemaliger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
Donnerstag, 16. März 2017
DZ BANK, Niederlassung Münster
Veranstaltungsbericht: 

Mehr Marktwirtschaft wagen

Holger Steltzner thematisierte in seinem Vortrag im Rahmen der Mitgliederversammlung der Forschungsgesellschaft für Genossenschaftswesen die aktuelle öffentliche Wahrnehmung der sozialen Marktwirtschaft sowie deren Einordnung in den europäischen Kontext. Hierbei ging er besonders auf die spannungsgeladene Beziehung zur gegenwärtigen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ein.

Steltzner sensibilisierte die anwesenden Mitglieder der Forschungsgesellschaft sowie die zahlreichen Gäste für die Problematik einer zunehmenden Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen und der real existierenden sozialen Gerechtigkeit in Deutschland. Diese Widersprüchlichkeit sei partiell auf eine Entkopplung der Diskussionen von Fakten und Tatsachen zurückzuführen und belaste mittelfristig das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen.

Holger Steltzner

 

Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verdeutlichte dies anhand der Diskussion um Altersarmut in Deutschland. Vor dem Hintergrund einer historisch geringen Arbeitslosigkeit sowie steigender Reallöhne und Renten werden mittelfristig lediglich zwischen drei und sechs Prozent der Deutschen von Altersarmut betroffen sein. Analog werde jedoch eine derart kontroverse Debatte geführt, so dass zwei Drittel der Deutschen das Risiko in Altersarmut zu geraten als hoch einstufen. Entgegen einer, durch solche Debatten befeuerten, Erweiterung des Sozialstaates plädierte Holger Steltzner für eine Entlastung der deutschen Steuerzahler. Da der Bundeshaushalt stark von anhaltenden Niedrigzinsen profitiere, jedes Jahr neue Rekordsteuereinnahmen verzeichne und die Steuerbelastung in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen sei, müsse eine Entlastung in der politischen Agenda priorisiert werden.

Grundsätzlich erscheint es Steltzner notwendig, das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft mit neuem Leben zu füllen und ein bürgerlich-freiheitliches Menschenbild stärker in den Mittelpunkt des politischen Koordinatensystems zu stellen. Andernfalls sieht er die Gefahr, dass der Drang nach Sicherheit und Absicherung freiheitliche Werte zunehmend auszuhöhlen drohe.

Anschließend präsentierte Holger Steltzner eine Analyse der Europäischen Union nach dem Brexit. Von herausragender Bedeutung waren für den Journalisten in diesem Zusammenhang nicht nur das zukünftige Fehlen des zweitstärksten Nettozahlers der EU-Mitgliedsstaaten, sondern insbesondere die strukturellen Veränderungen im Gleichgewicht der supranationalen Entscheidungsfindung. Durch die veränderte Bevölkerungsstruktur innerhalb der EU können die Mittelmeer-Staaten durch eine Sperrminorität ihren stärkeren Einfluss geltend machen, wodurch eine politische Orientierung an Freihandel, Subsidiarität und Leistungsfähigkeit auf europäischer Ebene erschwert werde. In einer intensiven Diskussion mit den Teilnehmern der Veranstaltung wurde diese politische Herausforderung deutscher Europa- und Außenpolitik in ihrer Bedeutung zusätzlich hervorgehoben.

Holger Steltzner

 

Im Umgang mit Großbritannien nach dessen Austritt aus der EU riet Steltzner von der Statuierung eines Exempels dringend ab und forderte einen freundschaftlichen Umgang sowie ein Marktöffnungsabkommen mit beschränkter Personenfreiheit. Zu einer stabilen Europäischen Union könne es mittel- und langfristig nur kommen, wenn eine produktive Zusammenarbeit mit ausgetretenen Staaten sichergestellt sei. Auf diesem Weg könnten vor allem diejenigen Mitgliedsstaaten, die einen erheblichen Teil des Budgets der EU bereitstellen, vor Ausbeutung durch andere Mitgliedsstaaten geschützt werden. Dieser zunächst widersprüchliche Gedanke fördere die Disziplin aller Mitgliedsstaaten und stabilisiere die Europäische Union nachhaltig.

Darüber hinaus hob Holger Steltzner die gesellschaftliche und politische Verantwortung hervor, jüngere Generationen wieder neu von der Idee der Europäischen Union zu begeistern. Das Argument der Friedensunion habe Generationen für das gemeinsame Projekt begeistert, sei für junge Menschen mittlerweile jedoch mehr Selbstverständlichkeit als Begründung für europäischen Enthusiasmus. Steltzner verwies in seinem Vortrag auf die Chance durch neues Wachstum und zukünftigen Wohlstand erneute Begeisterung zu entfachen. Insbesondere in der Peripherie der EU sei die Wohlstandsperspektive eine entscheidende Motivation für den Beitritt in die Europäische Union gewesen. Dieses Versprechen müsse die EU wieder einlösen um sich dauerhaft als unverzichtbar in den Köpfen kommender Generationen zu verankern.

Im Anschluss legte Holger Steltzner detailliert dar, welche negativen ökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen aus der anhaltenden Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank zu erwarten sind. Neben massiven finanziellen Einbußen der deutschen Sparer, erschwere die Geldpolitik eine risikoarme Altersvorsorge, schaffe systematische Anreize für Spekulationen und verstärke somit die Risiken von Spekulationsblasen.

Als Ursprung dieser umstrittenen Geldpolitik identifizierte Steltzner die Konstruktionsfehler des Euro-Raums. Da in den vergangenen 25 Jahren 165 Verstöße gegen die Maastricht-Kriterien gezählt wurden und die EZB sich durch die Ankaufprogramme von Staatsanleihen zum größten Gläubiger der Euro-Staaten aufschwinge, könne nicht von einem funktionierenden System gesprochen werden. Eine sich verstärkende staatliche Steuerung der Wirtschaftsabläufe durch die EZB sei unbedingt zu verhindern, stattdessen gelte es zu wettbewerblichen Strukturen innerhalb der Europäischen Union zurückzukehren um eine Spitzenposition im weltweiten Wettstreit um Fachkräfte, Kapital, Innovationen und Wachstum einnehmen zu können.

Eine Version des Vortrags wurde am 4. April 2017 bei FAZ online veröffentlicht.

Zur Person

Holger Steltzner ist seit 2002 einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nach Banklehre und Betriebswirtschafts- und Jurastudium in Frankfurt arbeitete er zunächst im Familienunternehmen und anschließend im Investmentbanking einer Schweizer Großbank. 1993 wechselte er in die Finanzredaktion der F.A.Z.; sechs Jahre später wurde er verantwortlicher Redakteur des Finanzmarktteils.